espero – Libertäre Zeitschrift, Nr. 2

espero, Nr. 2, Januar 2021, 228 Seiten, zahlr. Illustr., Download per Mausclick auf das Cover.

Herausgegeben von Markus Henning, Jochen Knoblauch, Rolf Raasch und Jochen Schmück. Potsdam: Libertad Verlag, Januar 2021, 228 Seiten, E-Zine (PDF). ISSN (Online): 2700-1598; Open Access (Kostenloser Download).

Aus dem Editorial

Ende Februar 2020 verbreitete sich die Coronavirus-Pandemie aus Asien kommend rasch in Europa und bald schon auf der gesamten Welt. Erst in Italien, dann bald auch in Deutschland und in anderen Staaten Europas schnellte die Zahl der Infizierten sowie die der an Covid-19 Erkrankten und Verstorbenen dramatisch in die Höhe.

Seither beschworen die Regierenden dieser Welt, denen die Kontrolle über das Geschehen zu entgleiten drohte, immer wieder die Anarchie, das Schreckgespenst des Zusammenbruchs der bestehenden staatlichen Ordnung, das seit der Französischen Revolution von den Herrschenden jeglicher Couleur immer wieder in Zeiten der politischen Krise bemüht wird.

Die Corona-Krise stellt ebenso wie die parallel dazu sich verschärfende globale Klimakrise nicht nur die herrschende Politik und die bestehenden Wirtschaftssysteme auf den Prüfstand, sondern auch wir Libertäre werden mit unseren traditionellen anarchistischen Ideen und Konzepten durch sie radikal in Frage gestellt. Und in der Tat gibt es in der internationalen libertären Bewegung zurzeit eine rege Diskussion darüber, welche Antworten der zeitgenössische Anarchismus auf die durch die Corona-Krise hervorgerufenen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fragen geben kann. Als libertäre Zeitschrift wollen wir uns an diesem Diskurs beteiligen. Wir bringen deshalb dieses Themenspecial unter dem Titel Die Corona-Krise und die Anarchie heraus, in dem die Autoren Antworten auf die folgenden Fragen zu geben versuchen:

  • Wie erlebe ich als Anarchist*in bzw. als Libertäre/r ganz persönlich die Corona-Krise und die durch sie bewirkten gesellschaftlichen Veränderungen?
  • Welche libertären Alternativen gibt es zu den staatlichen Maßnahmen, die von den Regierungen zur Bekämpfung der Corona-Krise eingeführt wurden?
  • Welche Gefahren, aber auch welche Chancen sehe ich als Libertäre/r in den durch die Corona-Krise in Gang gesetzten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen?

In seinem einleitenden Beitrag Kommt nach der Pandemie die Anarchie? zeigt Jochen Schmück auf, welch enormes gesellschaftspolitisches Potential die großen Pandemien der Vergangenheit – also die Pest im Spätmittelalter und die „Spanische Grippe“ zum Ende des Ersten Weltkrieges – im Leben der von ihnen betroffenen Zeitgenoss*innen freigesetzt haben. Ausgehend von diesen historischen Erfahrungen wirft sein Beitrag die Frage auf, ob das, was wir aktuell in der Coronakrise an positiven und negativen Erfahrungen gemacht haben und noch machen, ein Wissen ist, das uns helfen kann, nach dem Ende der Pandemie eine bessere Welt zu schaffen als wir sie heute vorfinden.

Das mag angesichts der schweren Krisen, welche die Menschheit gegenwärtig durchlebt, ziemlich utopisch klingen. Aber wann, wenn nicht jetzt, wäre der richtige Zeitpunkt, um sich Gedanken zu machen, wie wir morgen leben wollen? Eine Antwort auf diese Frage versuchen auch die Beiträge der folgenden Autoren des vorliegenden Corona-Specials zu geben.

In einem seiner letzten Interviews, das David Graeber einige Wochen vor seinem unerwarteten Tod noch gegeben hat, versucht der US-amerikanische Anthropologe aufzuzeigen, wie uns anarchistische Prinzipien helfen können, wieder Ordnung in das durch die Pandemie deutlich erkennbar gewordene soziale, politische und wirtschaftliche Chaos der Menschheit zu bringen.

Bereits im April 2020, als die USA von der ersten Welle der Corona-Pandemie erfasst wurde, führte die unionistische Zeitschrift Labour Notes ein Interview mit Noam Chomsky, in dem der US-amerikanische Sprachwissenschaftler und libertäre Sozialist aufzeigt, wie die Corona-Krise von den Herrschenden und Besitzenden dieser Welt genutzt wird, um ihre Macht zu stärken und ihre Profite zu mehren. Das Interview wurde in der letzten Phase der Trump-Ära geführt und es ist von dem politischen Horror dieser Ära und der Hoffnung auf ihr baldiges Ende geprägt. Zumindest diese Hoffnung scheint nach der Wahlniederlage von Donald Trump nun wenigstens in Erfüllung zu gehen.

Mit Roel van Duijn ergreift im Corona-Special ein libertärer Autor und Denker das Wort, der in den 1960er Jahren zu den Begründern der neo-anarchistischen PROVO-Bewegung in den Niederlanden gehörte. In zwei zu unterschiedlichen Zeiten und Phasen der Pandemie entstandenen Beiträgen warnt er vor den Gefahren, die von den rechts-populistischen Regierungen – à la Trump, Bolsonaro und Orbán – ausgehen, die die Corona-Krise zum Ausbau ihrer autokratischen Herrschaftssysteme nutzen. Sein erster, im April 2020 verfasster, Text ist ganz von den deprimierenden Erfahrungen und Einschränkungen des ersten Lockdown im Frühjahr 2020 geprägt. Deutlich heiterer gibt sich van Duijn in dem mit ihm im Juni 2020 geführten Interview, in dem er die Erinnerung an die PROVO-Bewegung aufleben lässt und deutlich macht, dass es vor allem das konkrete kommunalpolitische Engagement der Provos gewesen ist, das die Anarchie als zivilgesellschaftliche Alternative zur bestehenden Staatsgesellschaft im Alltag ihrer Mitbürger*innen erfahrbar gemacht hat. Erfahrungen also, die den heutigen libertären Bewegungen vielleicht helfen können, selber wieder Ansatzpunkte für anarchistische Aktivitäten in den modernen Zivilgesellschaften zu finden.

Dieser auf die Zivilgesellschaft ausgerichteten libertären Perspektive folgt auch Thomas Swann in seinem Beitrag Die anarchistische Kybernetik der Gegenseitigen Hilfe. Selbstorganisation in und nach der Coronavirus-Krise. In ihm setzt sich der englische Sozialwissenschaftler speziell mit der Fragestellung auseinander, wie die Erfahrungen, die die Menschen in der Corona-Krise mit den zahlreichen spontan entstandenen Initiativen der Gegenseitigen Hilfe gemacht haben, genutzt werden können, um Teil unserer Zukunftsentwürfe zu werden für eine neue Zeit nach der Coronavirus-Krise.

Der Autor P.M. liefert einen spontan entstandenen Text zum ersten Lockdown in der Schweiz. Er stellt die Verzichtskultur in Frage, in der sich die staatliche Pandemiebekämpfung zu verfestigen droht. Statt über Verbote nachzudenken, entwirft P.M. unter dem Motto Was wir in Zukunft alles dürfen die Umrisse einer nachkapitalistischen, lebensfreundlichen Zivilisation. Nur so lässt sich seiner Meinung nach die endgültige Systemfrage stellen.

Auch Rolf Raasch wägt ab, wie das Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftssystems korrigiert oder vielleicht sogar neu bestimmt werden könnte. Sein Beitrag tragt den Titel Argumentieren und Handeln in der Corona-Krise: Primat der Politik vor der Wirtschaft oder umgekehrt? Das von der neueren Sozialwissenschaft postulierte Wechselverhältnis (Interdependenz) von Politik und Wirtschaft beschreibt eine gesellschaftliche Situation, die Raasch nach konkreten Ansatzpunkten für nachhaltige libertäre Interventionen befragt.

Die weltweite Corona-Pandemie schärft unseren Blick für gesellschaftliche Verwerfungen. Dazu gehört nicht zuletzt die Krise der kapitalistischen Globalisierung. Ihre strukturellen Ursachen und mögliche Alternativen analysiert Gerhard Senft in seinem Beitrag Vom globalen zum lokalen Wirtschaften. Was es zur Krisenbekämpfung zukünftig braucht, ist eine Ökonomie nach menschlichem Maß. In anarchistischen Konzepten findet Senft fundierte Inspirationsquellen für eine neue Weichenstellung.

Nicht zufällig erlebt auch der klassische Anarchismus in Teilen der Öffentlichkeit ein gewisses Revival. Dessen inhaltlichen Tiefgang lotet Maurice Schuhmann aus. Sein Beitrag Gegenseitige Hilfe in Zeiten der Pandemie. Gedanken zur Kropotkin-Rezeption während der Corona-Pandemie plädiert für tiefergehende Auseinandersetzung und insbesondere auch für die Diskussion neuerer Anarchismus-Konzepte.

In einem Brief aus Indien, der uns Anfang Oktober als Beitrag zu unserem Corona-Special erreichte, berichtet schließlich der indische Anarchosyndikalist Sarthak Tomar über die verheerenden wirtschaftlichen und politischen Folgen der Corona-Krise in Indien, das neben den USA und Brasilien zu den Ländern gehört, die von der Pandemie am härtesten betroffen wurden.

Im Anschluss an die Beiträge des Corona-Specials finden sich auch in dieser Ausgabe der espero Rezensionen von Buchveröffentlichungen, die zum Thema des Specials zwischenzeitlich erschienen sind.

Weitere Beiträge zum Thema, die uns nach Redaktionsschluss erreichten, haben wir online auf unserer neuen Homepage veröffentlicht, die auch künftig die Möglichkeit bieten wird, sich mit weiteren Beiträgen zum Thema an der Diskussion über die Corona-Krise und die Anarchie zu beteiligen.

Wir hoffen mit unserer Veröffentlichung Denkanstöße zu geben, um die Diskussion darüber anzuregen, welche Rolle der sich im Herzen der Zivilgesellschaft neu herausbildende Anarchismus bei der Schaffung einer neuen Welt nach der Corona-Krise spielen kann.

Das espero-Redaktionskollektiv
in Berlin, Frankfurt am Main und Potsdam

Inhaltsverzeichnis