Themenschwerpunkt: Anarchismus und Wissenschaft
Winterzeit ist Lesezeit, und unsere aktuelle Winterausgabe (espero #8) bietet auch diesmal wieder reichlich „Lesefutter“. Der diesmalige Themenschwerpunkt befasst sich mit der Beziehung von Anarchismus und Wissenschaft.
Seit jeher ist diese Beziehung ausgesprochen facettenreich. Sie reicht von der bewussten Inanspruchnahme wissenschaftlicher Methoden als mögliches Werkzeug von Analyse und Emanzipation bis hin zu fundamentaler Kritik am herrschaftlichen Charakter von Wissenschaft und ihrer institutionellen Strukturen. Jenseits dieses Spektrums anarchistischer Positionierungen waren und sind libertäre Ideen aber auch unter vielen Wissenschaftler:innen populär, die sich selbst nicht explizit zum Anarchismus bekennen.
Diese verschiedenen anarchistischen bzw. libertären Haltungen gegenüber der Wissenschaft wollen wir mit den Beiträgen zu unserem Themenschwerpunkt erkunden und zur Diskussion stellen.
Den Auftakt macht ein Interview, das Žiga Vodovnik mit Noam Chomsky führte. Aus einer kritischen Bestandsaufnahme der kognitionswissenschaftlichen Forschung leitet Chomsky Maßgaben ab, durch die der zeitgenössische Anarchismus seine mangelnde Effektivität überwinden und wieder anschlussfähig an aktuelle Problemlagen werden könnte.
Eine ideologiekritische Sicht auf Wissenschaft, Bildung und Erziehung vertraten auf je eigene Weise Max Stirner und Paul Feyerabend. Gemeinsames und Trennendes der beiden libertären Denker arbeitet Roland Hinner in seinem Aufsatz heraus.
Thom Holterman spürt anarchistischen Potentialen in Teilen der Rechtswissenschaft nach. Seiner von anthropologischer Forschung gestützten These entsprechend müssen Recht und soziale Ordnung nicht notwendig mit Zentralgewalt und Erzwingungsinstanzen verbunden sein.
Angesichts multipler globaler Krisen scheinen die konkreten Möglichkeiten zur Realisierung einer herrschaftsfreien Gesellschaft im Augenblick jedoch eher gering zu sein. Der grundsätzlichen Frage, ob und in welcher Form uns wissenschaftliche Erkenntnisse diesbezüglich weiterbringen können, widmet sich der Beitrag von Stephan Krall.
Die Vorwegnahme der angestrebten Zukunft im Hier und Jetzt ist seit jeher ein wesentliches Moment anarchistischen Beginnens. Wie sich heute gelebte Anarchie in der modernen Wissenschaftspraxis darstellt, zeigt Jochen Schmück in seiner Untersuchung der Open Science-Bewegung.
Auch Charles Thorpe und Ian Welsh betonen, dass für die Entwicklung einer sozial-ökologisch verantwortlichen Wissenschaft und Technologie die Umsetzung anarchistischer Prinzipien wie Freiwilligkeit und Dezentralisierung, Kooperation und Diversität im Hier und Jetzt von grundlegender Bedeutung ist. Für eine demokratische Form der Wissenschaftskontrolle verweisen sie beispielhaft auf die globale Bewegung der Sozialforen.
In ähnlicher Richtung hatte wiederum Paul Feyerabend argumentiert. Der Beitrag von Siegbert Wolf prüft die politischen Implikationen von Feyerabends anarchistischer Erkenntnistheorie, ihre Tragfähigkeit und ihre Grenzen für einen zeitgemäßen Gesellschaftsentwurf.
Libertäres Denken und Handeln bezieht sich aber auch unabhängig vom erklärten Bezug zu Wissenschaft und institutionalisierter Forschung immer auf die Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse. Das ist das inhaltliche Leitmotiv, das die Beiträge in unserer neuen Ausgabe von espero trotz ihrer thematischen Vielfalt verbindet.
Mit der anarchistischen Spätphase in Jean-Paul Sartres Philosophie rekonstruiert Alfred Betschart eine bislang kaum aufgearbeitete und selbst im libertären Diskurs nur wenig reflektierte Materie.
Die komplexen Beziehungen, die der Anarchismus zur Gewalt einnimmt, zeichnet Andreea Zelinka aus bewegungsgeschichtlicher Perspektive nach. Ihr Fazit ist nach vorne gerichtet: Worauf es bei allen Differenzierungen ankommt, ist die öffentliche Sichtbarmachung anarchistischer Lebensvielfalt als Alternative zur gewaltförmigen Vergesellschaftung durch Herrschaft, Zentralismus, Staat und Militarismus.
Diese Sichtbarmachung hatte auch der Internationale Antiautoritäre Kongress zum Ziel, der im Juli 2023 im St. Imier stattfand. Yağız Alp Tangün zieht ein politisches Resümee aus Teilnehmerperspektive.
Wie unterschiedlich gesellschaftliche Umbrüche wahrgenommen werden, beschreibt Rolf Raasch am historischen Beispiel der Mexikanischen Revolution und ihrem literarischen Echo in den Romanen von Mariano Azuela und B. Traven.
In seinem Nachruf auf Bert Papenfuß erinnert Jochen Knoblauch an einen der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker der letzten Jahrzehnte. Bert Papenfuß war auch espero-Autor. Wir verneigen uns vor seinem Lebenswerk.
Inhaltlich beschließen wir unsere diesjährige Winterausgabe mit zwei Buch-besprechungen, einem Vorabdruck aus dem mit Spannung erwarteten ersten Band der „Gesammelten Schriften“ von Bernd Kramer und einem Bericht über das 5. Anarchismusforschungstreffen auf der Bakuninhütte vom 15. bis 17. September 2023.
Auch diese Beiträge stehen auf unterschiedliche Art für die Einsicht, dass eine humane und selbstbestimmte Zukunft nur durch den mentalen Gehalt der Hoffnung und durch unser gemeinsames Handeln in der Welt entstehen kann.
Wieder möchten wir uns bei unseren Autor:innen und allen anderen Menschen bedanken, ohne deren Hilfsbereitschaft und Einsatz die Herausgabe dieser Zeitschrift gar nicht möglich wäre.
Das espero-Redaktionskollektiv:
Markus Henning, Jochen Knoblauch, Rolf Raasch und Jochen Schmück
in Berlin, Frankfurt am Main und Potsdam