Herausgegeben von Markus Henning, Jochen Knoblauch, Rolf Raasch und Jochen Schmück. Potsdam: Libertad Verlag, Juli 2021, 228 Seiten, E-Zine (PDF). ISSN (Online): 2700-1598; Open Access (Kostenloser Download).
Aus dem Editorial
Mit unserer Zeitschrift espero (Neue Folge) treten wir ein für den wertschätzenden Austausch und das kreative Miteinander der unterschiedlichen anarchistischen Strömungen. Im Bewusstsein, dass es unzählige Wege gibt, Anarchie zu leben und weiterzuentwickeln, wollen wir Diskussionsräume öffnen für einen pragmatisch ausgerichteten, offenen und hoffnungsfrohen Anarchismus ohne Adjektive.
Als wir im Frühjahr 2020 die erste reguläre Ausgabe unserer Zeitschrift redaktionell vorbereiteten, steuerte die Corona-Pandemie gerade auf ihren ersten globalen Höhepunkt zu. Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, dass die Menschheit mit der Verbreitung des Corona-Virus eine ihrer großen historischen Pandemien durchlebt, vergleichbar nur noch mit der Pest im Mittelalter oder mit der Spanischen Grippe zum Ende des Ersten Weltkrieges.
Genauso wie die globale Klimakrise stellt auch Corona unsere hergebrachte Lebensweise und unsere Anschauungen radikal in Frage. Nicht nur die herrschende Politik und die bestehenden Wirtschaftssysteme stehen auf dem Prüfstand, sondern auch wir Libertäre mit unseren traditionellen anarchistischen Ideen und Konzepten.
Welche Antworten hat der zeitgenössische Anarchismus auf die von Corona hervorgerufenen Problemlagen? Das hat auf internationaler Ebene einen regen Diskurs angestoßen, an dem auch wir uns beteiligen. Im Januar 2021 veröffentlichten wir die zweite Ausgabe unserer Zeitschrift als ein Special zum Thema: „Die Corona-Krise und die Anarchie“ mit Beiträgen von David Graeber, Noam Chomsky, Roel van Duijn u.a. bekannten libertären Autoren. Bislang wurde dieses Corona-Special fast 7.000 Mal von unserer Homepage heruntergeladen. Eine erfreuliche Resonanz auf ein Thema, das uns sicher noch lange begleiten wird, auch wenn zumindest hierzulande endlich auch wieder Licht am Ende des Corona-Tunnels erkennbar wird.
Passend zu den nun wieder möglich werdenden Urlaubsaktivitäten präsentieren wir unsere aktuelle Sommerausgabe als eine virtuelle Weltreise durch Raum und Zeit. Sie führt uns u.a. nach Belarus und Belgien, ins Burgenland, nach Frankreich, in die Niederlande, nach Russland, in die Schweiz und nach Zentralafrika. Verbindende Klammer dieser Streifzüge ist die Suche nach aktuellen Ansätzen zur Wiederbelebung libertärer Ideen und Aktivitäten. Herausgekommen ist eine thematische Mischung, die – wie wir meinen – gerade dadurch inspirierend wirkt, dass sie Vergegenwärtigungen historischer Praxis und Theoriebildung systematisch mit Konzepten für zeitgemäßes anarchistisches Handeln verknüpft.
Anthropologische Perspektiven auf gelebte Anarchie stehen neben grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Anarchismus und Recht. Sozialgeschichtliche Analysen revolutionärer Tendenzen verbinden sich mit einer gegenwartsbezogenen Aufarbeitung historischer Jahrestage (Pariser Kommune 1871 / Der Aufstand von Kronstadt 1921). Auf einer exemplarischen Ebene werden Momente für ein libertäres Ökologieverständnis genauso solide herausgearbeitet wie die Möglichkeiten einer spezifisch anarchistischen Praxis bildender Kunst. Ein Resümee über Wurzeln und Tragweite des in den 1960er Jahren als soziale Bewegung neu erstandenen Anarchismus leitet über in tagesaktuelle Analysen aus libertärer Sicht (Belarus / Der Sturm auf das Washingtoner Capitol). In insgesamt sechs Rezensionen werden aktuelle Buchtitel besprochen, die wir unseren Leser*innen gerne ans Herz legen möchten. Mit einem Nachruf auf Lutz Roemheld (1937-2021) verneigen wir uns zum Abschluss dieser Ausgabe vor einem bedeutenden Anarchismus-Forscher.
Schließlich möchten wir uns ganz besonders bei unseren Autoren und allen anderen Menschen bedanken, ohne deren Hilfsbereitschaft und Einsatz die Herausgabe dieser Zeitschrift gar nicht möglich wäre.
Wir wünschen einen erholsamen Sommer und eine anregende Lektüre!
Das espero-Redaktionskollektiv:
Markus Henning, Jochen Knoblauch, Rolf Raasch und Jochen Schmück
in Berlin, Frankfurt am Main und Potsdam
Inhaltsverzeichnis
Editorial [7]
AUFSÄTZE UND ARTIKEL
Jochen Schmück: Das Volk des Waldes. Die gelebte Anarchie der Mbuti in Zentralafrika [11]
- Prolog [11]
- Wer sind die Mbuti? [14]
- Der Wald als Lebensraum [19]
- Geschlechterrollen und Altersgruppen [28]
- Die egalitäre Ökonomie [40]
- Methoden der Entscheidungsfindung [48]
- Die zwei Lebenswelten der Mbuti [51]
- Konflikte und Methoden der Konfliktlösung [57]
- Der Fluch der modernen Zivilisation [61]
- Epilog [67]
- Literatur [70]
Thom Holterman: Anarchismus und Recht [75]
- Der Anarchismus als Quelle freiheitsliebender Ideen [75]
- Auch Anarchist*innen regeln ihre Angelegenheiten mit Hilfe von Verfahren [82]
- Anthropologische Forschung liefert Einblicke in Rechtsauffassungen [94]
- Staatswille und Recht unterscheiden sich voneinander [104]
- Die Gesellschaft bildet die Grundlage für rechtliche Regeln [115]
- Das kritische und konstruktive Potential des Anarchismus [122]
Gerhard Senft: Pannonische Aufbrüche.Sozialrevolten im westungarischen Raum von den frühen Bauernaufständen bis zur Räteperiode 1918/19 [133]
- Vorbemerkungen [133]
- Das Aufbegehren der bäuerlichen Bevölkerung [134]
- Wirtschaftlicher und sozialer Wandel [138]
- Die Anfänge der Arbeiterbewegung [141]
- Anarchisten und Sozialrevolutionäre in Ungarn [144]
- Die Revolution in Westungarn 1918 [149]
- Die ungarische Räterepublik 1919 [153]
- Schlussakt: Vom „Heinzenland“ zum Burgenland [156]
- Literatur [159]
Rolf Raasch: Louise Michel und ein Flüchtlingsschiff ihres Namens [165]
- Literatur [169]
Ewgeniy Kasakow: Auf dünnem Eis – alte und neue Debatten zum Kronstädter Aufstand 1921 [171]
- Probleme der Quellen und der Historiographie [173]
- Ringen um historische Einordnung [180]
Siegbert Wolf: „… dass im Leben der Menschen und Tiere feste Zusammengehörigkeiten von Natur wegen da sind“.
Zum Mensch-Tier-Natur-Verhältnis bei Gustav Landauer [187]
- Literatur [209]
Erik Buelinckx: Der belgische Anarchist, Antimilitarist und aktivistische Künstler Albert Daenens (1883-1952) [215]
- Biographie und künstlerische Anfänge [215]
- Erste anarchistische Kontakte [217]
- Gesellschaftspolitische, literarische und künstlerische Zeitschriften [218]
- Haro! – Erste Folge (1913-1914) [222]
- Die Kriegsjahre (1914-1918) [225]
- Haro! – Zweite Folge (1919-1920) [227]
- Haro! – Dritte Folge (1927-1928), Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit [235]
Roel van Duijn: Auf der Suche nach meinem Anarchismus [239]
- Provotariat [242]
- Ein unmögliches Ideal? [248]
Gabriel Kuhn: Was wurde aus dem anarchistischen Jahrhundert? [251]
Ewgeniy Kasakow: Schwarz, rot, orange: Anarchistische Organisationen im postsowjetischen Belarus [259]
P. M.: Verspätetes Neujahrsblatt 21: Empörung, Verzweiflung, Zynismus, Resignation – und das ganz andere [265]
REZENSIONEN
- Maurice Schuhmann: Louise Michel [278]
- Maurice Schuhmann: Luxus für alle! [281]
- Markus Henning: Vom Hobo-Dschungel zur kybernetischen Erneuerung des Anarchismus: Auf den Spuren von Sam Dolgoff durch die linksradikalen Milieus der USA [283]
- Markus Henning: Das „Dazwischen“ als rebellische Lebensform: Theodor Plievier und der Anarchismus ohne Adjektive [287]
- Markus Henning: Erweckungserlebnis und Rassenwahn: Roel van Duijn entschlüsselt den Lebensweg der holländischen Nationalsozialistin Julia Op ten Noort [290]
- Markus Henning: „Es geht nicht darum, dem Job zu entfliehen, sondern ihn abzuschaffen“ – P.M. als Rodulf Ritter von Gardau, die Tannenbaum-Revolution, und warum Befreiung immer möglich ist [294]
MITTEILUNGEN [299]
Gerhard Senft: Nachruf auf Lutz Roemheld (1937-2021) [300]
Die Autoren dieser Ausgabe [303]