espero – Libertäre Zeitschrift, Nr. 5

espero, Nr. 5, Juli 2022, 347 Seiten, zahlr. Illustr., Download per Mausclick auf das Cover.

Herausgegeben von Markus Henning, Jochen Knoblauch, Rolf Raasch und Jochen Schmück. Potsdam: Libertad Verlag, Juli 2022, 347 Seiten, E-Zine (PDF). ISSN (Online): 2700-1598; Open Access (Kostenloser Download).

Aus dem Editorial

Zwar tragen wir die Hoffnung im Titel unserer Zeitschrift (espero heißt auf Spanisch: Ich hoffe), aber in Zeiten wie diesen fällt es bisweilen wirklich schwer, noch Hoffnung zu haben. Seit Jahrzehnten ächzt die Welt unter den zunehmend dramatischeren Folgen des Klimawandels, noch immer hat die Menschheit die seit Anfang 2020 grassierende Corona-Pandemie nicht überwunden, weltweit sind rechtspopulistische Bewegungen und diktatorische Regierungen auf dem Vormarsch, und nun befinden wir uns gefährlich nahe am Abgrund eines Dritten Weltkrieges, den Russland mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine unter Verweis auf sein Atomwaffen-Arsenal nun schon mehrfach angedroht hat.

Wir sind zutiefst empört über den Vernichtungskrieg, den das Putin-Regime mit gnadenloser Gewalt nun schon seit über drei Monaten gegen die ukrainische Zivilbevölkerung führt, und wir fordern alle unsere Leserinnen und Leser auf, sich energisch diesem Krieg entgegenzustellen und den Opfern dieses Krieges solidarisch zur Seite zu stehen.

Überhaupt kein Verständnis haben wir für all jene Putin-Versteher, die in einer widerlichen Täter-Opfer-Umkehr Verständnis für diesen imperialistischen Gewaltakt Russlands einfordern oder sogar die Ukraine selbst für diesen Krieg verantwortlich machen. Leider gibt es auch in unseren eigenen Kreisen Menschen, die als Zombies der russischen Kriegspropaganda solche Fake-Views vertreten und als Fake-News weiterverbreiten. Als Libertäre können und wollen wir dem Großmachtdenken, das dieser Haltung zugrunde liegt, nicht folgen. Denn wir sind natürlich gegen alle Großmächte, ob sie nun autokratisch wie das von Putin beherrschte Russland sind, ob sie eine totalitär herrschende Parteidiktatur wie in China haben oder ob sie das sog. westlich-demokratische Modell unter dem militärischen Dach der NATO verkörpern. Der Staat ist von seinen historischen Ursprüngen her ein Produkt des Krieges, und so lange wir es als Gesellschaft akzeptieren, in einer Staatenwelt zu leben, müssen wir immer auch mit dem Krieg rechnen.

Dass sich die Bevölkerung der Ukraine gegen diesen Vernichtungskrieg mit militärischen Mitteln verteidigt, ist sicher nicht Frieden stiftend, aber angesichts der von der russischen Soldateska verübten Gräueltaten an der ukrainischen Zivilbevölkerung als Notwehr für uns selbstverständlich. Bei diesem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, handelt es sich aber nicht nur um den Krieg einer imperialistischen Großmacht zur Unterwerfung eines Nachbarlandes, sondern es ist auch ein Krieg, den das Putin-Regime im Innern gegen die eigene zivilgesellschaftliche Opposition in Russland führt. Diese alle Bereiche der russischen Gesellschaft umfassende Diktatur unterscheidet das Regime in Russland von unseren westlich-demokratischen Systemen, in denen wir unsere libertäre Opposition gegen das vorherrschende System relativ frei entfalten können. Deshalb ist die von einigen gelegentlich vertretene Gleichsetzung eines autokratischen Re­gimes à la Putin mit westlich-demokratischen Regierungssystemen, wie wir sie z.B. in Westeuropa haben, eine ziemlich „einfältige“ Einstellung (siehe hierzu auf unserer Homepage den Beitrag Über den Umgang mit der russischen Propaganda von den im politischen Untergrund tätigen Genoss:innen der Gruppe Autonome Aktion in Russland).

So lange, wie das faschistische Putin-Regime in Russland noch an der Macht ist, wird es keinen Frieden geben, nicht in Europa, nicht in der Welt und auch nicht im Innern Russlands. Deshalb gilt unsere Solidarität nicht nur den Leidtragenden dieses Krieges, sondern auch all jenen mutigen Menschen, die sich in Russland selbst trotz massiver staatlicher Repression gegen diesen Krieg erhoben haben. Es ist diese zivilgesellschaftliche Opposition, die wir als Libertäre mit allen unseren Möglichkeiten unterstützen sollten – auch im Interesse des Friedens.

Im Lärm der auf Hochtouren laufenden Kriegsmaschinerie sind die Stimmen dieser zivilgesellschaftlichen Opposition in Russland etwas in den Hintergrund geraten. Deshalb starten wir unsere neue Sommerausgabe der espero mit dem Beitrag Die beispiellose Unterdrückung der Antikriegs-Oppo­sition in Russland von Oksana Mironova und Ben Nadler. Als aktuelles Dokument antiautoritären Aufbegehrens folgt der Streikaufruf des Femini­s­tischen Antikriegs-Widerstandes (FAS) in Russland zum 1. Mai 2022.

Der unmittelbaren Gegenwart und einem ihrer drängendsten Probleme stellt sich auch Roel van Duijn. Seine Analyse der Verschwörungsmythen, mit denen Corona-Leugner, Bestreiter des Klimawandels, Putin- und Trump-Verehrer auch hierzulande die Agenda des autoritären Staats verfechten, liest sich wie die unmittelbare Vorgeschichte zum menschenverachtenden Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.

Die Frage von Krieg und Frieden steht als verbindende Klammer auch im Hintergrund der nächsten vier Beiträge. Sie bilden unseren diesmaligen Themenschwerpunkt zur Beziehung zwischen Anarchismus und Demokratie: Colin Ward blickt aus ganz grundsätzlicher Perspektive auf das dynamische Spannungsverhältnis, in dem sich staatliche Machtansprüche und soziale Teilhabe der Zivilgesellschaft unweigerlich gegenüberstehen. Als anarchistische Alternative zur repräsentativen Demokratie schlägt Amedeo Bertolo eine grundlegende Neukonstruktion des politischen Raumes vor, basierend auf direktdemokratischen, föderalen und konföderalen Strukturen. Thom Holterman wirft die Frage nach einem anarchistischen Verfassungsrecht auf und fordert die Übertragung zentralstaatlicher Aufgaben auf dezentralisierte Rechtskreise. Am Beispiel eines Orchesters ohne Dirigenten entfaltet Jochen Schmück schließlich die Prinzipien kooperativer Selbstorganisation und betrieblicher Demokratie als praktikables Gegenmodell zur Top-Down-Kommunikation in autoritären Organisationsformen.

Aber auch der historische Anarchismus bietet bei aller Zeitgebundenheit in seinen theoretischen Entwürfen und praktischen Erfahrungen einen Wissensschatz, der uns heutigen Libertären von Nutzen und Wert sein kann.

Olaf Briese führt uns in seinem Beitrag zurück bis zur Revolution von 1848, geht der Biographie des Frühanarchisten Sigmund Engländer nach und öffnet unseren Blick für die in Teilen überraschende Aktualität der im antiautoritären Lager damals geführten Debatten.

Auch moderne Konzepte experimenteller Verwirklichung beziehen sich in vielem auf historische Persönlichkeiten wie Gustav Landauer und Martin Buber. Dem Leben, der Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft dieser beiden Vordenker gelebter Anarchie geht Siegbert Wolf nach.

Im Mittelpunkt des Beitrages von Tom Goyens steht Robert Bek-gran und dessen spezifisch libertärer Ansatz antifaschistischer Aktion in den USA der 1930er/40er Jahre. Die Notwendigkeit der Selbstbehauptung gegenüber autoritären Strömungen von rechts und von links eint Bek-grans Erfahrungswelt mit der unseren.

Wie sich aus zeit- und milieugebundener Gesellschaftskritik auch heute noch inspirierende Veränderungsoptionen ableiten lassen, arbeitet Rolf Raasch beispielhaft am mexikanischen Werk des anarchistischen Schriftstellers B. Traven heraus.

Heiko Koch bietet uns einen erfrischend lebensnahen Bericht über die frühen 1980er Jahre und die damalige Jugendrevolte in Bochum. Er schildert nicht nur, wie sich im kollektiven Aufbruch Ermöglichungsräume und Lernbereiche auftun können, er weckt auch Neugierde auf weitere libertäre „Lokalgeschichten“.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Schrecken der Gegenwart uns paralysieren. Auch in finsteren Zeiten bleibt es unsere Aufgabe, aktiv nach Möglichkeiten libertärer Um- und Neugestaltung zu suchen. Genau das tut Bert Papenfuß in seiner lyrisch-literarischen Annäherung an Han Ryners Sozialutopie Les Pacifiques.

Es schließen sich drei Rezensionen von Büchern an, die wir unseren Leser:innen ans Herz legen wollen. Auch sie stehen jede auf ihre Art für die Einsicht, dass eine humane und selbstbestimmte Zukunft nur durch den mentalen Gehalt der Hoffnung und durch unser gemeinsames Handeln in der Welt entstehen kann.

Wieder möchten wir uns bei unseren Autor:innen und allen anderen Menschen bedanken, ohne deren Hilfsbereitschaft und Einsatz die Herausgabe dieser Zeitschrift gar nicht möglich wäre.

Das espero-Redaktionskollektiv:

Markus Henning, Jochen Knoblauch, Rolf Raasch und Jochen Schmück
in Berlin, Frankfurt am Main und Potsdam

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